Dies Domini – 11. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Durch Gewöhnung getrübt verliert die Erkenntnis an Elan. Der Fortschritt der Gedanken wird gehemmt, denn Fortschritt bedeutet Veränderung. Die Gewöhnung aber ist der Veränderung feind. Einmal an eine vermeintliche Erkenntnis gewöhnt, verstört jede Kritik die wohlige Gemütlichkeit. Deshalb wird das Gewöhnliche schnell zur Tradition erklärt, die es zu bewahren gälte. Erschreckt vor der Autorität der Tradition wird dabei freilich übersehen, dass Tradition selbst immer ein Übergang ist, ein Fortschreiten auf dem bisher beschrittenen Weg in der Treue zu den Vielen, die auf diesem Weg vorangeschritten sind und in der Verantwortung, dass auch kommende Generationen den Weg weitergehen werden. Den Heutigen obliegt es, den eigenen Teil des Weges zu gehen – eines Weges, den sie nicht begonnen haben und den sie nicht beenden werden. Den Staffelstab der Tradition haben sie übernommen, um ihn zu tragen und einst weiterzugeben. Tradition ist der Name eines Weges, eines fortschreitenden Prozesses der Erkenntnis. Tradition ist Erkenntnis. Deshalb verändert die Tradition, wird verändert und bleibt doch Tradition. So muss keine Generation von neuem anfangen, den Urgrund der Welt zu erkennen. Die Erkenntnisse und Forschungen heute bauen auf denen auf, die vergangene Entdecker und Forscherinnen gewonnen haben; und sie werden zur Basis für neue Erkenntnisse in der Zukunft werden. Das ist Tradition – kein Zustand, sondern ein Weg. Gewöhnung ist der Tradition deshalb per se fremd.
Vom Virus der Gewöhnung sind nicht selten auch der Glaube und seine Rede von Gott und Welt betroffen. Allzu schnell wird da Jesus zum Heiland und Erlöser der Welt, zum guten Mann aus Galiläa, der Kinder segnete, Kranke heilte und auch sonst für jeden nur ein gutes Wort hatte. Es müssen deshalb böse Menschen gewesen sein, die den lieben Jesus umgebracht haben. An solche einfachen Sichtweisen gewöhnt, neigen selbst Erwachsene dazu, alles und alle, die nicht sofort mit dem lieben Jesus übereinstimmen, zu verurteilen. Im besten Fall nimmt man die Apostaten noch ins Gebet. Auf jeden Fall aber kann man die, die dem lieben Jesus nicht huldigen, nicht verstehen. Selbst steht man natürlich auf der richtigen, auf der guten Seite, auf der Seite des lieben Jesus, des Heilands. In seiner Gottheit Glanz sonnt man sich und betet darum, dass diese Gnade noch wachsen möge, während man mit wohligem Schauer auf die herab schaut, die nicht in dieser Gemeinschaft leben. Tatsächlich könnte man sich in dieser Haltung auf die Worte des Paulus berufen, wie sie in der zweiten Lesung vom 11. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A verkündet werden:
Christus ist schon zu der Zeit, da wir noch schwach und gottlos waren, für uns gestorben. Dabei wird nur schwerlich jemand für einen Gerechten sterben; vielleicht wird er jedoch für einen guten Menschen sein Leben wagen. Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht gemacht sind, werden wir durch ihn erst recht vor dem Gericht Gottes gerettet werden. Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Gottes Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben. Mehr noch, wir rühmen uns Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn, durch den wir jetzt schon die Versöhnung empfangen haben. Römer 5,6-11
Das „Wir“ der Erlösten ist stark in diesem Text. Dabei baut Paulus ein Gegenüber von Früher und Heute auf. Heute sind wir erlöst. Früher hingegen waren wir Gottes Feinde. Zu Erlösten aber werden die, die die Feindschaft zu Gott ablegen und sich des Herrn Jesus Christus rühmen, durch dessen Auferstehung vom Kreuzestod die Rettung bewirkt wurde. Wer nicht in dieses Rühmen einzustimmen vermag, bleibt demnach noch en Feind Gottes. Er bzw. sie bleibt ein Sünder.
Das aber wirft Fragen auf. Worin besteht denn die Erlösung, von der Paulus hier spricht? Und was hat es mit der Sünde auf sich?
Die Biographie zumindest des erwachsenen Paulus ist sowohl vor als auch nach seinem Bekehrungserlebnis vor Damaskus von der Auseinandersetzung mit dem Kreuzestod Jesu geprägt worden. Als gläubiger Jude – und Paulus verweist in Philipper 3,5 und 2 Korinther 11,22 ausdrücklich darauf, dass er ein Hebräer, ein Israelit aus dem Stamm Benjamin und Pharisäer war – bedeutete für ihn der Tod am Kreuz in sich, dass jeder, der diesen Tod erleidet ungeachtet von Schuld oder Unschuld ein von Gott Verfluchter sein muss. So heißt es doch in der Thora:
Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, auf das die Todesstrafe steht, wenn er hingerichtet wird und du den Toten an einen Pfahl hängst, dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben. Denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter. Deuteronomium 21,22f
Der an einen Pfahl Gehenkte ist von Gott verflucht. Genau das aber macht die Sünde aus – unter dem Fluch der Trennung von Gott zu leben. Sünde ist das Getrenntsein von Gott, die Absonderung, die nur durch Versöhnung, also die Annahme als Kind von Gott aufgehoben werden kann.
Nun erlebt der Mensch sich aber in sich als von Gott getrennt. Gott ist eben nicht einfach als Gegenüber erkennbar. Von daher erlebt der Mensch sich, sofern er über diese Frage nachsinnt, immer zuerst als Sünder. Er ist auch nicht in der Lage, diesen Zustand zu überwinden. Aus dieser Perspektive wird klar, dass Sünde primär weniger Tat als Zustand ist.
Weil aber der Kreuzestod mit Blick auf die Weisung der Thora in sich als Fluchtod galt, bedeutete jede Verehrung eines Gekreuzigten eine Blasphemie. Deshalb verfolgte der fromme Pharisäer Paulus die Jesusjünger und war offenkundig gar an Aktionen von Lynchmobs beteiligt. Paulus muss ein heißblütiger Mann gewesen sein, der das Bequeme und Gewöhnlich verabscheute. Was auch immer sich vor Damaskus ereignet hat – Paulus selbst beschreibt es immer wieder als Offenbarung des Auferstandenen –, ihm wird die tiefere Erkenntnis des vom Kreuzestod Auferstandenen zuteil. Die Auferstehung vom Kreuzestod begründet nämlich ein Paradox: Der von Gott Verfluchte wird von Gott von den Toten auferweckt!
Das stellt jede gewöhnliche Interpretation des Kreuzestodes auf den Kopf. Wenn der Gekreuzigte, der doch durch die Kreuzigung zum Gottverlassenen, zum Sünder geworden ist, von Gott auferweckt wird, dann kann er eben kein Sünder sein. Paulus erkennt immer mehr:
Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für allemal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus. Römer 6,10f
Der Christ weiß, dass die Trennung von Gott, die Sünde eben, nur eine fleischliche Illusion ist, weil sich die Erkenntnis der Gegenwart Gottes einem banal-sensualen Zugriff entzieht. Vielmehr müsste sich jede Christin und jeder Christ im Klaren darüber sein, dass sie selbst Tempel Gottes sind, weil der Geist Gottes in ihnen – wie in allen anderen lebendigen Wesen – atmet. Deshalb ruft Paulus den Korinther ja zu:
Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes verdirbt den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr. 1 Korinther 3,16f
Die, die sich zu Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi bekennen, müssten also wissen, dass sie längst von der Sünde befreit sind. Genau das ist die eigentliche Erlösung – die Erlösung von der Sündenangst. Die Glaubenden müssten wissen, dass die Sünde für sie längst gestorben ist. Gerade von hier aus ergibt sich deshalb auch der immanente Auftrag der Nachfolgerinnen und Nachfolger des vom Kreuzestod Auferstandenen, von dem das Evangelium vom 11. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A berichtet. Jesus ruft dort seine Jünger auf, Arbeiter für die Ernte auszusenden. Um was für eine Arbeit es sich dabei handelt, wird deutlich, als er sich einen Kreis von zwölf Männern erwählt, die er mit einem klaren Auftrag entsendet:
Geht nicht zu den Heiden, und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben. Matthäus 10,5b-8
Wer bisher an das Bild des lieben Jesus gewöhnt war, muss bei den ersten Worten unwillkürlich erschrecken. Der Auftrag Jesu ist exklusiv auf das Haus Israel gerichtet. Nicht den Heiden und den Samaritern gilt sein Streben, sondern exklusiv den verlorenen Schafen Israels. Als Heide aber werden hier die bezeichnet, die keine Juden sind.
Die Kirche heute ist eine Kirche aus Heiden. Nur die allerwenigsten Christinnen und Christen dürften heutzutage vorher Jüdinnen oder Juden gewesen sein. Die Weisung Jesu aus dem Evangelium vom 11. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A wirft daher die Frage auf, warum es die Kirche, wie wir sie heute kennen überhaupt gibt.
Die Botschaft vom nahen Himmelreich, das die Zwölf, die Jesus aussendet, wie er selbst in Wort und Tat mit Vollmacht voller Macht verkünden sollen, wird schlussendlich doch in aller Welt verkündet werden. Das aber ist eine Erkenntnis, die nach Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi erst in der Jüngerschaft – vor allem auch in der Auseinandersetzung zwischen den Zwölfen und Paulus und seinen Mitarbeitern auf dem sogenannten Apostelkonzil (vgl. Apostelgeschichte 15,1-35 sowie Galater 2,1-10) – erst hart wider alle Gewöhnung errungen werden muss. Möglicherweise war bei dem Erringen der Erkenntnis, dass das Paradox von Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi die Überwindung eben jener auf das Volk Israel bezogenen Exklusivität bedeutet, die sich in der ersten Lesung vom 11. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A andeutet, die selbst der Thora entstammt. Gott selbst weist darin sein Volk über Mose an:
Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. Exodus 19,5.6a
Die exklusive Erwählung Israels bedeutet nicht, dass Israel sich selbst genügen dürfe. Gott gehört ja die ganze Erde. Israel soll ein Reich von Priester auf dieser Erde sein. Es soll also den Namen Gottes auf der Erde wachhalten und ausrufen. Darin besteht die bleibende Berufung dieses Volkes, zu dem sich Jesus selbst zuerst gesandt wusste. Seine Auferstehung vom Kreuzestod bedeutet nun aber eine Entgrenzung der Exklusivität. Es wird nicht Paulus alleine gewesen sein, der in Antiochien – neben Jerusalem jenem zweiten großen Zentrum der frühen Kirche, in der sich die Jüngerinnen und Jünger Jesu zum ersten Mal Christen nannten (vgl. Apostelgeschichte 11,26) – zunehmend zu dieser Erkenntnis gelangte, dass Gott in Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi einen neuen Bund schloss, der jetzt über Israel hinaus eben auch den Völkern gilt; es ist aber jener Paulus gewesen, der mit dieser Erkenntnis in Wort und Tat ernst gemacht hat und von dem wir durch seine briefliche Kommunikation mehr wissen als von anderen. In seinen Briefen nämlich wird deutlich, dass die heißblütige Leidenschaft die große Konstante im Leben des Paulus ist: Mit derselben Leidenschaft, mit der er vor dem Damaskuserlebnis die Kirche verfolgte, tritt er nach seiner großen Erkenntnis für die Kirche ein, einer Kirche, Mitglieder sich als „Anhänger des neuen Weges“ (vgl. Apostelgeschichte 9,2) verstanden.
Es ist wieder einmal Zeit, sich der Gewöhnung zu entwöhnen und mit der Tradition ernst zu machen. Die frühe Kirche zeigt, dass Tradition immer auch Fortschritt und Veränderung mit sich bringt – Fortschritt und Veränderung auf der Basis von bisher Erreichtem. Fragen und Aufgaben gibt es in der Gegenwart genug. Nur auf eine vermeintlich feste Tradition zu verweisen, wird der Tradition gerade nicht gerecht, denn die Tradition ist von lebendigem Wesen. Jesus sendet seine Jünger ja von sich weg. Er traut ihnen zu, dass sie in seinem Namen das Richtige tun. Wer jetzt noch ängstlich hinter verschlossenen Kirchenmauern sitzt, ist dieses Wagemutes des göttlichen Heilandes dann doch nicht würdig – mögen die Gebete auch noch so fromm sein. Tradition ist, wenn man wirklich aufbricht. Aufbruch aber ist, wenn man sich erhebt und aufsteht. Eine bloß kniende Kirche kann das nicht.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Herzlichen Dank für diesen Exkurs ins Dialektische – hat Spaß gemacht 🙂
Gewöhnung macht blind und somit handlungsunfähig.
Wie gut, dass in der Kirche Platz ist für aufstehende Arbeiter und kniende Beter.
Die Vielfalt bringt’s, macht’s lebendig – gleich wie der Einzelne „sozialisiert“ ist …
soll heißen: gleich ob er in seiner persönlichen Geschichte des Christseins
voll im Flow des II. Vatikanums groß geworden oder sich sogar philosophischem Denken nähern konnte, oder ob er als Christ in eher östlichen Gefielden aufgewachsen, Aufgabe, Erfüllung und Sinngebung in der Ausübung von in Kinderzeiten erlernten Frömmigkeitsübungen findet, die einer eher kritikbereiten westlichen Christenseele widersprechen, oder fremd geworden sind.
Platz für Viele und Gemeinsam macht stark, das baut Zukunft!